Kanjur bzw. Kangyur (tibetisch བཀའ་འགྱུར, bKa’-’gyur „Übersetzung der Worte“), und Tanjur bzw. Tangyur (བསྟན་ འགྱུར, bsTan-’gyur „Übersetzung der Lehre“) werden die buddhistischen Schriften im Kanon des tibetischen Buddhismus bezeichnet. Hierzu zählen insbesondere die tantrischen Vajrayāna-Schriften, die ab etwa dem 6. Jhd. n. Chr. entstanden, wie z.B. das Mahâvairocana-Tantra (spätere 6. Jhd.), das Tattvasamgraha (7. Jhd.), Guhyasamâja-Tantra (späte 7. oder 8. Jhd.), und sie werden nicht mehr als Teil des Mahayana Sanskrit-Kanon, sondern als eigenständige und unabhängige Werke betrachtet. Deshalb ist der tibetische Kanon, der solches Material mit einbezog, anders gegliedert als z.B. der Pali-Kanon oder der chinesische Mahayana-Kanon, der aber auch einige tantrische Schriften enthält, und zwar in ‚Dul-ba (Vinaya), Śerphyin (Prajñāpāramīta), Phal-chen (Buddhāvataṃsaka), dKon-brtsegs (Ratnakŭṭa), mDo-se (Sūtrānta), rGyud-‚bum (Tantra).
Nach der Überlieferung fand der erste Konatkt der Tibeter mit den buddhistischen Lehren angeblich zur Zeit des 28. Königs von Tibet Lha Thothori Nyentsen im 5. Jahrhundert. Der Legende zufolge soll zu dieser Zeit auf wundersame Weise eine kostbare Schatulle auf dem Dach des Königspalastes Yumbu Lagang erschienen sein. Diese enthielt zwei buddhistische Sutra-Texte, darunter das „Karandavyuha-Sutra“ über die Bedeutung des Bodhisattva Avalokiteshvara, eine goldene Miniatur-Stupa, das sechssilbige Mantra Avalokiteshvaras Om mani padme hum und andere heilige Objekte. Der König konnte die Bedeutung der Objekte nicht verstehen, erkannte aber intuitiv, dass sie von besonderer Bedeutung waren. Nach einer weniger phantastischen, möglicherweise historisch zutreffenden Schilderung wurden ihm diese Gegenstände von einem indischen Mönch gebracht, der erstmals buddhistische Lehren nach Tibet einführen wollte. Dieser aber reiste, da er die Sprache des Königs nicht beherrschte und auch keine Übersetzer zur Hand waren, unverrichteter Dinge wieder nach Indien zurück und ließ lediglich die Schatulle samt Inhalt als Gabe an den König zurück. Nach der Legende soll der betagte König dank seiner Verehrung für diese kostbaren Objekte auf wundersame Weise das Aussehen und die Vitalität eines jungen Mannes zurückerhalten haben und ein Alter von 120 Jahren erreicht haben. Die eigentliche Verbreitung des Buddhismus fand dann ab dem 7. Jahrhundert verstärkt statt, indem der legendäre Padmasambhava und weitere Yogi und Pandita Tibet besuchte und dort seine tantrischen Lehren und die Lehren des Dzopa Chenpo (Maha-Sandhi) verbreitete, wobei es auch Kontakte zu chinesischen Buddhisten und der Verbreitung dieser Lehren gab. Nach einer legendären Debate im Kloster Samye, die ca. 792–794 n. Chr. stattgefunden haben soll, entschied sich dann der König Thrisong Detsen (Khri-sron-lde-btsan, tibetisch: ཁྲི་སྲོང་ལྡེ་བཙན; * 742; † 796) für die indisch/nepalesische Übertragungstradition und es wurde die chinesische Übertragungstradition verboten und deren Schriften und Abbildungen weitesgehend vernichtet.
Es folgte dann im 9. Jahrhundert die Unterdrückung des Buddhismus, der im 10. oder 11. Jahrhundert eine zweite weitere Überlieferung der buddhistisachen Lehren folgte. Beginnend im 8. Jahrhundert, der „frühen Übersetzungsperiode“, in der Inder, Nepalesen und Tibeter zusammenwirkten, wurde ein verbindliches terminologisches Wörterbuch, das Mahāvyutpatti, geschaffen. Um 900 wurden erstmals Kataloge der existierenden Schriften, sogenannte them-byan, erstellt. In der „zweiten Übersetzungsperiode“ ab dem 11. Jahrhundert kamen bedeutende Sammlungen von Texten indischer Gelehrter (Pandits) hinzu, die dann den Kanjur (tibetisch བཀའ་འགྱུར, bKa’-’gyur „Übersetzung der Worte“) und Tanjur (བསྟན་འགྱུར, bsTan-’gyur „Übersetzung der Lehre“) bildeten, wobei nur die erstere kanonische Literatur enthält. Tibetische Übersetzungen sind für die Rekonstruktion der indischen Originale von Bedeutung, da sie, im Gegensatz zu chinesischen Ausgaben, wörtliche Übersetzungen sind.
Der erste tibetische Katalog war der um 1320 im Kloster Narthang entstandene, dessen Revision, der Tshal-pa bKa‘-‚gyur, die Grundlagen späterer Ausgaben bildeten. Die Überarbeitung des Tanjur erfolgte durch Bu’ston (1290–1364), der auch die Orthographie standardisierte.
Für den Kanjur lassen sich, grob gesagt, aufgrund der Textkritik zwei Überlieferungsstränge, ein westlicher und östlicher, erarbeiten. Die östliche spaltet sich wiederum in einen Lithang und einen Peking-Zweig. Aufgrund der Vielzahl der unterschiedlichen Manuskripte und Blockdrucke kann eine abschließende Beurteilung noch nicht gegeben werden. Der heute akzeptierte Kanjur umfasst in den unterschiedlichen Ausgaben in der Regel zwischen 1055 bis 1169 Werke in 100 bis 120 Bänden, der Tanjur 3626 bis 4093 Werken in 220 bis 250 Bänden. Die einzige Ausnahme bildet der Gondhla-Kanjur (Lahul, Indien) aus dem 14. Jhd., der 397 Werke in 36 Bänden umfasst.
Allgemein umfasst der bekanteste Derge-Kanjur folgende Inhalte:
- Vinaya (Ordensregeln für Mönche und Nonnen): 8 Werke D1-D8
- Prajnaparamita (die transzendente, vollkommene Weisheit): 36 Werke D9-D44
- Avatamsaka („Blumengirlande“-Sammlung zusammengehöriger Sutras): 1 Werk D45
- Ratnakuta (Juwelenhaufen-Klasse der Sutras): 49 Werke D46-D94
- Sutras: 267 Werke D95-D361
- Sarma-Tantras: 472 Werke D362-D833
Anuttarayoga-Tantra, Tibetan: bla na med pa’i rgyud: Vater-Tantra (Wyl. pha rgyud), Mutter-Tantra (Wyl. ma rgyud) und Nichtduales Tantra (Wyl. gnyis med kyi rgyud)
Yoga Tibetan: རྣལ་འབྱོར་རྒྱུད, Wylie: rnal ‚byor rgyud
Caryāyoga (Sanskrit) चर्या (Devanagari) Tibetan: སྤྱོད་པ, Wylie: spyod pa:
Kriyayoga-Tantra: - Nyingma-Tantra: 19 Werke D834-D852
Atiyoga (Dzogpa Chenpo)
Anuyoga
Mahayoga
Yoga
Upayogatantra oder Ubhayatantra (Sanskrit; Devanagari: उभय; Wylie: spyod pa’i rgyud kyi theg pa, Tibetan: སྤྱོད་པའི་རྒྱུད་ཀྱི་ཐེག་པ)
Kriyayoga-Tantra: - Dharani (kurze Texte, die Mantra-Rezitationen oder Gebetsformeln sind): 263 Werke D854-D1117
- Kalachakra–Tantra: 1 Werk D 853
Der Tanjur umfasst folgende Inhalte:
- Lobpreisungen;
- Tantra – Vajrayana-Abhandlungen;
- Prajnaparamita – Abhandlungen über die transzendente, vollkommene Weisheit;
- Madhyamaka – Abhandlungen, die auf Nagarjunas mittlerem Weg beruhen;
- Sutra-Kommentare – allgemeine Abhandlungen;
- Cittamatra – Abhandlungen der Nur-Geist-Schule bzw. einige von Asangas Schriften;
- Abhidharma – Zusammenfassungen und systematische Zusammenstellungen der Lehre;
- Vinaya – Abhandlungen, die von der klösterlichen Disziplin handeln;
- Jataka – Geschichten, die von Buddhas früheren Leben als Bodhisattva handeln;
- Briefe;
- Logik;
- Sprache;
- Medizin;
- Handwerk; und
- weltliche Abhandlungen.
Vom Kanjur sind folgende Ausgaben bekannt:
- Derge (sde dge bka‘ ‚gyur). Autor: Situ Chökyi Jungné སི་ཏུ་ཆོས་ཀྱི་འབྱུང་གནས་, 1753-1774; 1118 Werke, 102-103 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W30532
http://tbrc.org/#library_work_Object-W4CZ5369
http://tbrc.org/#library_work_Object-W22084 - Kangxi, Peking Manuskript (pe cing bka‘ ‚gyur). 1692-1700; 106 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W1PD96684 - Beijing, China Tibetology Center. 2006-2009
- Lithang oder Jang (li thang bka‘ ‚gyur/’jang bka‘ ‚gyur). Autor: König von Jang Sonam Rabten und Garwang Chokyi Wangchuk, 1608-1621, 109 Bände
https://www.tbrc.org/#library_work_Object-W4CZ7445
http://tbrc.org/#library_topic_Object-T1129 - Chone (co ne bka‘ ‚gyur). Autor: Chone Drakpa Shedrup. 1729-1733, Werke, 108 Bände,
http://tbrc.org/#library_work_Object-W1PD96685 - Narthang (snar thang bka‘ ‚gyur). 1730-1732, 102 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W22703 - Mongolian Urga (urga bka‘ ‚gyur). Autor: Jetsun Dampa von Mongolia, 1908-1910, 105 Bände
https://www.tbrc.org/#library_work_Object-W29468 - Lhasa (Zhol) (lha sa bka‘ ‚gyur): 1934, 100 Bände
https://www.tbrc.org/#library_work_Object-W26071 - Shey (Shel mkhar bris ma bka‘ ‚gyur). 1730, 105 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W1PD127393 - Mongol (sog yig par ma bka‘ ‚gyur). Manchu Emperor Kangxi, 1717-1720, 108 Bände
https://www.tbrc.org/#library_work_Object-W4CZ5370 - Gondhla (Lahul, Indien) (gon dha la bris ma bka‘ ‚gyur). 14 Jhd., 397 Werke, 36 Bände
https://www.tbrc.org/#library_work_Object-W1PD128753 - Bonpo (theg chen g.yung drung bon gyi bka‘ ‚gyur). 1999, 179 Bände
https://www.tbrc.org/#library_work_Object-W21872 - Stog,Ladakh (stog pho brang bris ma bka‘ ‚gyur). 18. Jhd., 109 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W22083 - Tempangma, Gyantse (them spangs ma bka‘ ‚gyur): 1431, 114 Bände
http://www.worldcat.org/title/bka-gyur-rgyal-rtsei-them-spang-ma/oclc/670256396
Vom Tanjur folgende Ausgaben:
- Chone (co ne bstan ‚gyur): Chone Lama Drakpa Shedrub, 1753-1773, 209 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W1GS66030 - Narthang (snar thang bstan ‚gyur). 1741-1742, 225 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W22704 - Golden oder Ganden (gser bris ma bstan ‚gyur). 1731-1741, 225 Bände
https://www.tbrc.org/#library_work_Object-W23702 - Derge (sde dge‘i bstan ‚gyur). Autor: Shuchen Tsultrim Rinchen, 1737-1744, 213 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W23703 - Beijing, China Tibetology Center: 1994-2008;
- Bonpo (bon gyi bka‘ brten). 1999, 300 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W30498
- Manuskripte:
- Them-spans-ma-Ms. (Gyantse)
- Lithang-, Cone-, Derge-, Urga-, Wara- und Ra-skya-Editionen (westliche Überlieferung)
a) Narthang Kangyur (blocks carved in 1733; 1930s original woodblock print edition)
b) Comparative Edition of the the Kangyur (2006)
c) Lhasa Kangyur
d) Derge Kangyur
2 Kanjur- (bZad-pa-rtsal- und Sans-rgyas-rygya-mtsho) und eine Tanjur-Ausgabe aus der Zeit von Ngawang Lobsang Gyatso, 5. Dalai Lama (1617–1682) - Nu-ma-Kanjur
- Tshal-gun-than-Kanjur (80 Bände)
- rJes-rku-‚bum-Kanjur (Amdo, 102 Bände)
- ‚Phyon-rgyas-Tanjur (234 Bände, 15. Jahrhundert)
- je ein burjätischer (unsicher: Druck 17. Jahrhundert) und bhutanesischer
- Blockdrucke:
- Zuerst aus dem Kloster Narthang (ab 1320) und Lhasa
- Peking-Drucke, um 1410, erstmals in Tibet nachgewiesen 1416, nachgedruckt 1606 und mehrmals im 17. oder 18. Jahrhundert
- Digitale Versionen:
a) Tempangma edition of Kanjur (DVD, 7 discs)
b) Peking Manuscript edition of Kanjur (DVD, 5 discs)
c) Comparative Edition of the Kanjur (bka‘ ‚gyur dpe bsdur ma). 2006-2009, 109 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W1PD96682
d) Comparative Edition of the Tanjur (bstan ‚gyur dpe bsdur ma). 1994-2008, 120 Bände
http://tbrc.org/#library_work_Object-W1PD95844 -
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Tōhoku Teikoku Daigaku. Hōbun Gakubu. Chibetto Daizōkyō sōmokuroku. Sendai-shi: Tōhoku Teikoku Daigaku Hōbun Gakubu, 1934.
———. Chibetto Daizōkyō sōmokuroku. Sendai-shi: Tōhoku Teikoku Daigaku Hōbun Gakubu, 1934.
Tshul-khrims-rin-chen, Źu-chen. Kun Mkhyen Ñi-maʾi-gñen Gyi Bkaʾ Luṅ Gi dgoṅs Don Rnam Par ʾgrel baʾi Bstan Bcos … Chu Gter ʾphel baʾi Zla Ba Gsar Pa. Par theṅs 1. ed. Lha-sa: Bod-ljoṅs mi dmaṅs dpe skrun khaṅ :, 1985.
Online-Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Buddhistischer_Kanon
https://de.wikipedia.org/wiki/Kanjur_und_Tanjur
https://enricokosmus.wordpress.com/2014/11/23/kangyur-und-tengyur-sammlungen-tibetischer-dharma-schriften/
http://www.thlib.org/index.php
http://asianclassics.org/index.html
http://databases.aibs.columbia.edu/
http://web1.otani.ac.jp/cri/twrpw/tibdate/Peking_online_search.html
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